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Karin Siepmann

Selbstorganisation im Seniorenheim - Belindas Rentnerchor

Aktualisiert: 19. Okt. 2020

„We have a voice“ – In dieser Reihe möchten wir in lockerer Folge, Menschen in Senioreneinrichtungen eine Stimme geben, die sonst vielleicht keine haben. Menschen, wie du und ich, mit ihren Geschichten. In Interviews, Berichten und Podcasts wollen wir diesen Geschichten von Bewohnern, Mitarbeitern und Angehörigen einen Raum geben.

Selbstorganisation im Seniorenheim - Belindas Rentnerchor

„Das schaffen die nie!“

Ich sitze mit Karl-Heinz Grimm und Johanna Imhof im kleinen Aufenthaltsraum des Wohnbereichs 6 in der Seniorenresidenz Domherrengarten in Essenheim. Beide haben sich extra fein gemacht, mit weißem Hemd und weißer Bluse. Wir sind zu einem Interview verabredet. Ich möchte gerne wissen, wie es dazu kam, dass sie - gemeinsam mit anderen Bewohnern - einen Chor selbstorganisiert gegründet haben.





„Das schaffen die nie!“ und „Der Grimm kommt nie zum Singkreis und jetzt will er einen Chor gründen.“ Das waren die ersten Kommentare, die er gehört habe, erzählt Herr Grimm. „Da dachte ich mir: Na warte, denen werde ich es zeigen! Dabei hatte ich mit Singen eigentlich gar nichts zu tun.“


Dann gingen die Vorbereitungen los. Herr Grimm gehört zu den noch wenigen Bewohnern in Senioreneinrichtungen, die bereits einen Computer in ihrem Zimmer haben. Hier fing er an nach Liedern und Texten zu googlen, diese wurden ausgedruckt, kopiert, nummeriert und - nach Liedkategorien mit Trennstreifen versehen - in rote Liedermappen gebunden.


Dann fehlten ja auch noch die Mitsänger. Diese wurden von Frau Imhof und Herrn Grimm nach und nach eigenhändig angesprochen und überzeugt. „Ein paar sind noch zurückhaltend, aber die kriegen wir auch noch!“ sind sich beide einig. Inzwischen sind sie schon zu elft.





Die Geschichte eines Mitsängers ist besonders schön. Herr Weber (Name geändert) ist dementiell verändert. Als er ins Haus kam, hat er oft lange und laut geschrien. Irgendwann kam es - mehr durch Zufall -, dass in seiner Nähe gesungen wurde und plötzlich stimmte er in das Lied ein und es war klar, dass er wohl eine der besten Stimmen im Chor hat. Seitdem ist er regelmäßig mit dabei und zusammen mit Frau Imhof gelingt es sogar immer wieder, dass beide spontan eine zweite Stimme im Lied einsingen.


Frau Imhof singt Alt-Stimme und ist familiär musikalisch sozusagen vorbelastet. Ihr Bruder hat früher bei der Gruppe Dschingis-Khan mitgesungen – „der Glatzkopf“ sagt sie. Bei Herrn Grimm ist das Musikalische auf seinen Sohn übergegangen, der den Chor “Hamburg Voices“ leitet.


Ein besonderes Chormitglied ist Herrn Grimms Hündin Rosi. Mit ihren 13 Jahren ist sie selbst auch schon im Hunde-Seniorenalter. Mitsingen tut sie nicht, erhält dafür aber bei den Proben jede Menge zusätzliche Streicheleinheiten.


Gesungen wird ohne Noten – nur mit Text. „Schlager“, „Rhein- und Weinlieder“ und „Refrainlieder“ bei denen nur der Refrain gesungen wird, sind die selbst kreierten Kategorien des Repertoires. Wenn eine Melodie mal nicht so bekannt ist, nimmt Herr Grimm das Lied mit seinem Handy vom Computer auf und spielt es dann via bluetooth auf einem kleinen Lautsprecher bei der Chorprobe vor. Alle Mitglieder dürfen sich Lieder wünschen und gemeinsam wird dann geschaut, ob das passt.


Geprobt wird zweimal die Woche, donnerstags und sonntags. Der Proberaum ist aktuell eine der Wohnküchen auf dem Wohnbereich. In dieser Küche hat auch die 99 jährige Frau Berner (Name geändert) tagsüber ihren „Stammplatz“. Den wollte sie natürlich nicht verlassen, nur wegen einer Chorprobe. Also bekam sie kurzerhand auch eine Liedmappe in die Hand und wenn es ein guter Tag ist singt sie gerne mit.


Sonntags gibt’s in der Probenpause zur Erfrischung regionalen Wein. Und zusammen hat man sich eine Besonderheit ausgedacht, die es auch nur sonntags gibt: Wenn eine der Damen ihre Lippen rot schminkt, erhält sie beim Lied „Rote Lippen soll man küssen“ einen solchen auf die Wange.




Nach dem Interview darf ich dann an einer Live-Probe teilnehmen. Ich bin gerührt. Alle haben sich fein gemacht. Man hatte sich vorher auf ein weißes Ober- und dunkles Unterteil geeinigt. Zwei Mitglieder kommen in ihren üblichen Outfits. Das wird nicht geduldet, sie müssen sich also nochmal umziehen, bevor es losgeht. „Ei, heute kommt doch das Fernsehen“ lässt einer überzeugt seinen Nachbarn wissen.




Und dann kommt für mich die nächste Überraschung: Ohne Dirigent, nur mit Text und erst seit 3 Monaten zusammen singend, kommen die Schlager und Rhein- und Weinlieder prima rüber. Sogar einige musikalisch schwere Passagen zwischen den Refrains werden souverän gemeistert, inklusive sich verlangsamendem Tempo am Ende eines Liedes. Ich bin offen beeindruckt und fange in Gedanken an, von einer Deutschlandtournee zu träumen.


Die erste Initiative zur Idee des Chors kam von Belinda Schwamb, Wohnbereichsleiterin und stellvertretende Pflegedienstleiterin im Haus. Sie gab Herrn Grimm sozusagen den Auftrag, sich darum zu kümmern. Als Dank dafür hat der Chor entschieden, sich „Belindas Rentnerchor“ zu nennen.


Bewegt und dankbar verlasse ich an diesem Nachmittag das Seniorenheim. Mit Herrn Grimm habe ich jetzt einen email-Brieffreund im Seniorenheim. Er hat mir übrigens auch ausdrücklich die Erlaubnis dafür erteilt, Anfragen für Auftritte und Fanpost an ihn weiterleiten zu dürfen. Und auf die Frage, was sie noch gebrauchen könnten für ihren Chor antworteten Frau Imhof und Herr Grimm, dass es ihnen Freude machen würde, wenn sich vielleicht mal jemand fände, der sie mit Gitarre oder Piano begleiten würde. Vielleicht fühlt sich ja jemand davon angesprochen, dann meldet euch gerne.


Für mich ist dies eines der ermutigenden Beispiele dafür, was Menschen gemeinsam gelingen kann, wenn man ihnen etwas zutraut (Neudeutsch: Psychological Empowerment) und ihnen den Freiraum gibt, sich mit ihren Fähigkeiten zu entfalten. Viel zu oft werden in Seniorenheimen den Bewohnern und den Mitarbeitern, diese Gelegenheiten nicht gegeben.




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